Zu rasch und oft zu unbedacht pflegen wir einen Großteil der mündlichen Überlieferungen von Menschen der Dritten Welt als »Märchen« zu bezeichnen; damit aber verwenden wir einen Gattungsbegriff, der im »euro-asiatischen Märchenkontinent« fraglos seine Berechtigung hat, der aber in anderen Kulturen möglicherweise nur bedingt tauglich ist, weil er zu falschen Auslegungen verleitet. Was wissen wir überhaupt von den Erzählformen und -inhalten, von Überlieferungsträgern und -wegen in Afrika, Asien, Amerika und in Ethnien, die wir vor kurzem noch abschätzig »Naturvölker« nannten? Trotz zahlreicher Textanthologien ist diese Oralliteratur noch weitgehend unbekannt, poetologische Untersuchungen stehen überhaupt erst in den Anfängen.
In diesem Band zeigen fünfzehn Autoren, darunter einige aus der Dritten Welt, den ethnischen, religiösen und sozialen Kontext zu dieser mündlich geschaffenen, mündlich dargebotenen und mündlich überlieferten »Literatur« auf und versuchen, ein besseres Verständnis für die manchmal fremd oder sogar bizarr anmutenden Geschichten zu vermitteln. Sie öffnen damit ein Tor zu einer erstaunlichen Erzählkultur, zu farbigen Bildern, zu Entwürfen einer faszinierenden Weltsicht. Zugleich lassen sie ein gemeinsames menschliches Erbe erkennen und machen bewusst, dass wir alle aus einem Urstock stammen.